TABUTHEMA
Vorsicht! Warnung! Attentione! Ich schreibe im Folgenden über ein TABUTHEMA. Habt ihrs alle verstanden? TABUTHEMA! Es geht um Sex mit Behinderung. „Bitte, was?“. Sex mit Behinderung.
Nur ich, exclusiv, nur ich trau mich darüber zu reden, weil ist ja ein Tabuthema.
Ok, also jetzt geht’s los mit dem Tabuthema! Wenn ihr in der U-Bahn am Handy lest, schaltet bitte den Bildschirm dunkler, soll ja keiner lesen können, dass ihr etwas über Sex mit Behinderung lest. Ihr lest meinen Blog auf nem großen Bildschirm? Sperrt lieber die Tür eures Arbeitszimmer zu, nicht das plötzlich jemand reinstürmt und sieht, wie ihr etwas über Sex mit Behinderung lest.
Ich hab letztens eine Folge von dem Podcast „Im Namen der Hose – Der Sexpodcast von PULS“ (Anzeige – unbezahlt.) gehört: Sex mit Behinderung. Und eigentlich streub ich mich immer davor etwas über Behinderung zu hören/lesen/schauen, wenn es von jemandem stammt, der nicht betroffen ist. Ich sehs dann immer schon kommen „Behinderte sind voll nett“ „Behinderte sind auch nur Menschen“ „Also ich könnte das ja nicht“, blablabla. Aber die Folge war ok. Auch wurde ein Rollstuhlfahrer interviewt und seine Freundin (die einen Fetisch dafür hat) und das fand ich recht interessant.
An dieser Stelle kurz für alle, die es bis jetzt noch nicht gecheckt haben: Menschen mit Behinderung haben tatsächlich Sex.
Es gibt eine Sache, die mir in dem Zusammenhang immer wieder auffällt. Immer heißt es „Wir reden über ein Tabuthema“ und „Tabuthema: Sex mit Behinderung“.
Seit 3 Wochen mach ich mir jetzt darüber Gedanken und ich weiß noch immer nicht so Recht, was ich davon halten soll. Ich versuch mal meine bisherigen Gedanken zusammenzufassen:
Auf der einen Seite denk ich mir: Halts Maul.
Verkauft nicht euren Artikel mit „Nur hier! Nur wir! Reden über das, worüber noch nie und niemals geredet wurde! DAS Tabuthema! Sex mit Behinderung!“
Redet darüber, gerne! Aber verkauft es nicht als Tabu. Und als wärt ihr die einzige inklusions-Kacke, die darüber redet.
Menschen reden darüber! Und vor allem: Betroffene reden darüber! Googelt nur und ihr seht, wie viele sich stark machen und darüber reden.
Warum immer „Tabuthema“? Das nervt mich. Für viele ist Sex generell ein Tabuthema, das liegt nicht an dem Zusatz „Behinderung“. Aber so wird es immer geschrieben.
„Sex mit Behinderung“ als „Tabuthema“ zu bezeichnen, verdeutlicht genau das Problem und wie es um Inklusion steht.
Andererseits denke ich mir: GUT!
Sehr gut! Denn so ersparen sich viele (mich eingeschlossen) unverschämte Fragen. Ich seh jemand zum ersten Mal und er/sie so: Wie hats du Sex? Hast du Sex? Was spürst du? Kannst du mit deinen Händen überhaupt wixxn? Du bist geil, aber kann man mit dir Sex haben?
Ich wünschte die Fragen wären erfunden und dramaturgisch. Nein. Alles echt.
Sobald Menschen mit Menschen mit Behinderung reden, scheinen sie von Privatsphäre, Intimsphäre und Anstand nie etwas gehört zu haben?
Warum ist das für viele so selbstverständlich? Du bist Behindert, du darfst keine Privatsphäre haben.
Ich bin offen. Ich erinner mich gern an folgendes Gespräch:
Ich unterhalte mich in der Schule mit einem Kumpel.
Aus der Reihe hinter uns: „Hä? Du kannst mit einem Mädchen doch nicht über Pornos reden!“
Kumpel: „Das ist Amelie.“
Und das beschreibt mich gut. Ich hab schon früh gerne über Sex geredet. Ich provoziere gern und Sex verunsichert die Menschen immer so schön. (Btw: warum sollten Frauen nicht über Pornos reden?!)
Aber. Das heißt nicht, dass ich jedem gleich und sofort erzähle, wie genau ich Sex habe. Ich schreibe bisher aus Prinzip nicht darüber. Ich hab ganz einfach Angst, Leute würden annehmen, jeder behinderte redet immer und sofort darüber und ich hab Angst, dass ich damit eben solche unsensiblen Fragen provoziere. Über Sex und Einschränkung und Empfindung zu reden kann ein sensibles Thema sein. Nicht jeder kann damit umgehen. Auch mich treffen solche Fragen oft tiefer, als sie sollten.
So, ok. Während ich das jetzt so geschrieben hab, ist mir klar geworden, wie ich denke:
Also: Ich finde „Sex mit Behinderung“ ist kein Tabuthema. Menschen reden darüber. Betroffene reden darüber.
Vielleicht bin ich zu offen, aber ich finde das ganze „Tabuthemen“ ding eh unnötig. Aber eher verständlicher, wenn krasse Fetische so bezeichnet werden. Weil das etwas ungewöhnliches ist. Aber Sex mit Behinderung?
Es ist kein Tabuthema, weil Sex mit Behinderung alltäglich ist. Sex mit Behinderung ist Sex. Fast jeder zehnte in Deutschland ist schwerbehindert.(https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2016-10/statistisches-bundesamt-schwerbehinderte-menschen-deutschland). Behinderung ist so viel! Einige Diabetes-kranke haben einen Behindertenausweiß. Es ist also gut möglich, dass auch DU Sex mit Behinderung hattest.
Nur weil Menschen ein Problem haben über Sex zu Reden, muss das doch nicht IMMER in Bezug mit Behinderung als Tabuthema bezeichnet werden.
Die Leute sind verklemmt und laufen trotzdem mit nem Stock im Arsch rum.
Aber! Das heißt nicht, dass ich jeder Behinderte immer und sofort darüber reden muss. Dass man jeden Behinderten über sein Sexualleben ausfragen soll.
Es ist wie bei jedem anderen auch: wenn jemand cool damit ist, soll er darüber reden. Wenn dir jemand deutlich macht, dass du fragen kannst, frag.
Wenn ihr darüber schreibt, schreibt darüber. Aber macht es nicht zu etwas „ungewöhnlichem, unnormalem, abartigen“ indem ihr es als „Tabuthema“ bezeichnet.
Warum wird überhaupt in Frage gestellt, dass behinderte Menschen Sex haben/wollen.
Ja, für manche behinderte Menschen ist es schwer jemanden zu finden mit dem sie Sex haben. Aber wisst ihr was? Wie viele Menschen ohne Behinderung haben da auch Probleme? Wie viele haben mit 25 noch keinen Partner gehabt? Noch nie Zärtlichkeiten ausgetauscht. Das ist kein Problem, das nur bei behinderten Menschen auftritt.
Was hingegen nur bei menschen mit Behinderung auftritt ist vielleicht die körperliche/geistige Einschränkung, die Sex schwer umsetzbar machen kann. Wenn zwei (oder mehr.) Personen aufeinander treffen, die den Sex so nicht umsetzen können. Dafür gibt es Sexualassistenz.
Ok, und ich muss es kurz anschneiden, auch wenn meine Ansicht da vielleicht eigen ist: Aber für alles andere gibt es Sexarbeiter*innen. Ich versteh auch da die Vorurteile nicht, ich persönlich bin schon immer fasziniert von legaler, auf freiem Entschluss beruhender Prostitution. Ich finde es ist ein Job wie jeder andere auch. Anderes Thema.
Aber ich finde überhaupt nichts verwerfliches daran, sich als Mensch mit oder ohne Behinderung einer solchen zu bedienen.
Ich hab noch nicht so ganz durchgeblickt, was genau Sexualassistenz, Sextherapie und Sexarbeiter*in sind, weil die Begriffe gefühlt beliebig verwendet werden.
Aber ich seh das so:
Sexualassistenz: Hilfe bei der Durchführung. Ganz banal formuliert.
Sextherapie: Therapie. Reden über Sex, welche Möglichkeiten, Wünsche, Vorlieben. Oder auch in Form von körperlicher Therapie: Körperwahrnehmung, aufzeigen von Möglichkeiten.
Sexarbeit: Sex für Geld.
Und warum sollte Sex für Geld bei Menschen mit Behinderung anders genannt werden? Es ist Sexarbeit. Und daran ist nichts verwerflich.
Ok, ich bin abgeschweift. Aber ihr merkt schon, das ist ein Thema das mit sehr bewegt. Vielleicht finden sich anregende Kommentare, gerne auch Belehrungen und Meinungen. Ich würde dahingehend nämlich gerne mehr wissen und mir eine deutlichere Meinung bilden. Meine bisherige Meinung begründet sich bisher nur auf Empfindungen, Eindrücken. Ich hätte dahingehend gerne mehr Fakten. Also gerne her. Ich wird mir auch weiterhin Gedanken machen und wenn ich zu weiteren Erkenntnissen komme, nochmal etwas dazu schreiben.
Ja Amelie. Aber wie ist das denn nun? Wie vögelst du?
Gentlelady schweigt und genießt.
Kennst du den Blog von Katja („Einfach Katja“ heißt der)?
AntwortenLöschenDie ist diesbezüglich Fachfrau!
Moin Amelie,
AntwortenLöschenSehr cool geschrieben. Das Wort "Tabuthema" im Zusammenhang von Artikeln zum Thema "Sex von/mit Behinderten" würde ich jetzt nicht allzu hoch hängen.
Die Journos, die darüber Artikel schreiben, geht es darum Aufmerksamkeit zu erzeugen, damit Klicks - und damit Werbeeinnahmen.
Zunächst fallen derlei Artikel in die große Kategorie "Sex sells". Ich könnte beispielsweise wetten, dass irgendein Online-Portal, sei es bento oder der Stern, spätestens im Sommerloch was mit Studentinnen und Prostitution macht. Zieht immer.
Sollte auch das langsam durchgenudelt sein, kommen mutmaßlich die Senioren dran.
("Wie Sie verhindern, dass der Rollator dabei umkippt")
Und packt man dann noch das Wort "Tabuthema" davor, dann lesen's halt noch mehr Leute. Klingt schön dramatisch: Tabuthema Aufräumen. Betroffene Kinder berichten.
Das ist es aber nicht ganz. Denn in den letzten Jahren hat sich der gesellschaftliche Blick auf behinderte Menschen drastisch verändert. Heute kaum noch vorstellbar, dass die "Aktion Mensch" früher "Aktion SORGENKIND" hieß!
Bis zum Normalzustand ist es allerdings noch weit, der Weg dorthin ist von Neugier geprägt. Gilt auch für Deutsche mit Migrationshintergrund. Die müssen sich, egal wie lange hier sie leben, IMMER die Frage anhören: Und wo kommst Du her? Alternativ: Woher sprechen Sie so gut Deutsch?
Und da Sexualität immer ein Thema ist, scheint dies im Umgang mit "Behinderten" Neugier-Thema Nr. 1.
Das erklärt vielleicht warum Du danach gefragt wirst, entschuldigt es aber nicht!
Denn ebenso wie ein türkischstämmiger Ruhrpottler nicht ad nausesam erklären muss, dass sein Großvater aus Izmir stammt, seine Familie seit 50 Jahren in D lebt, er hier geboren ist und er wohl deshalb so schön deutsch spricht - ebenso wenig müssen Du oder eine andere Rolli-Fahrerin erklären, ob und wie, wie oft und mit wem.
Ist Privatsphäre. Punkt.
Rollifahrerin habe ich jetzt übrigens bewusst geschrieben, da ich vermute, dass hauptsächlich sehr attraktive Rolli-Frauen öffentlich drauf angesprochen werden.
Oder hast Du schon mal einen sportlichen jungen männlichen Tetra erlebt, der öffentlich gefragt wird: "Siehst ja richtig knorke aus, aber kriegste eigentlich noch einen hoch?".
Wie gesagt: Öffentlich gefragt. Denn Männer und ihre Potenz scheint tatsächlich ein Tabuthema zu sein ;-)
Ansonsten: Viel Spaß beim Genießen!
Liebe Grüße
Michael
"Ja Amelie. Aber wie ist das denn nun? Wie vögelst du?"
AntwortenLöschenDas was man sich früher nicht zu fragen traute, traut man sich seid diesem Internet (das setzt sich nicht durch dieses Internet) offenbar zu fragen ;-) so als unwissender stellt man sich das so vor, du wirst in eine Liebesschaukel reingesetzt und vernascht, den aktiven Part wirst ja dabei nicht übernehmen können... die beste Freundin erzählt ja durchaus wie sie es gerne hat das sie am besten kommt, welche Toys sie hat, aber die sitzt nicht im Rollstuhl
An Anonym von 2. Mai
LöschenJa die beste Freundin. Höchstwahrscheinlich ist Amelie, aber nicht deine beste Freundin.
Ob Handicap oder nicht, du fragst im Alltag auch nicht eine wild fremde Frau wie sie es am liebsten im Bett hat? Nicht weil es ein Tabu ist, sondern aus Anstand. Es geht dich und den Rest, dieser unverschämten Menschen, die sich hinter ihren Social Media Profilen verstecken, genauso wie im realen Leben, einen scheiß an, wie jemand anderes Sex hat. Einen Internet Zugang zu besitzen, bedeutet nicht, das man seine Erziehung und einen gewissen Grund Respekt einfach so ablegen kann.
spannendes Gespräch über Sex und Behinderung moderiert von Hannah Witton: https://youtu.be/AvGNiwR57iI
AntwortenLöschenIch bin bei dem Thema auch grundsaetzlich offener als viele andere. Ich habe kein Problem damit, ueber meinen Porno-Konsum zu sprechen. Ich empfehle Erika Lust an der Stelle ;)
AntwortenLöschenAllerdings faende ich das auch sehr merkwuerdig, wenn ich einfach irgendwelche Nachrichten bekommen wuerde, in denen sofort steht: Wie hast du Sex? Was soll das? Koennen wir uns bitte erst einmal ueber andere Dinge unterhalten. Klar, wenn man sich besser kennt, kann man das Thema vielleicht mal vorsichtig anschneiden und fragen: Hey, ist das fuer dich ein Thema, ueber das du offen reden kannst und moechtest. Wenn der Mensch dann Nein sagt, hat man das zu respektieren. Und wenn nicht, dann spricht man eben drueber und tauscht sich aus. Generell ist Sex so ein riesiges Tabu-Thema. Verstehe ich nicht. Aber wie gesagt: nicht mit einer fremden Person. Also so intim ist es dann doch schon.